M. Grundewald u.a. (Hrsg.): Das evangelische Intellektuellenmilieu

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Titel
Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963). Le milieu intellectuel protestant en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1871–1963)


Herausgeber
Grunewald, Michel; Puschner, Uwe; Bock, Hans Manfred
Reihe
Convergences 47
Erschienen
Bern 2008: Peter Lang/Bern
Anzahl Seiten
614 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Metzger, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Freiburg (Schweiz)

Mit diesem von Michel Grunewald und Uwe Puschner in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock herausgegebenen Sammelband liegt nun der vierte und letzte Band eines Forschungsprogramms des Centre d’Etude des Périodiques de langue Allemande der Université Paul Verlaine – Metz mit dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel und dem Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin vor. Die Publikationen orientieren sich in ihrer Einteilung an der von M. Rainer Lepsius bereits in den 1960er Jahren postulierten Fragmentierung der deutschen Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts in vier sozialmoralische Milieus. Während die drei vorangegangenen Sammelbände sich mit dem linken (erschienen 2002), dem konservativen (2003) und dem katholischen Intellektuellenmilieu (2006) befassten, ist der aktuelle Band der Analyse des evangelischen Milieus gewidmet. Wie Michel Grunewald in seiner Einführung richtigerweise relativierend festhält, könne die Detektierung von Kategorien betreffend der Konstituierung von Milieus jedoch nur sehr differenzierend von statten gehen, denn bezüglich des evangelischen Milieus sei es noch unmöglicher als im Falle des katholischen, sich starr auf das theoretische Konzept von Lepsius zu beziehen (7–8).

Der zweisprachige Band – die Mehrheit der Beiträge ist auf Deutsch verfasst, zwei sowie die Einführung auf Französisch – gliedert sich in vier Teile, eingerahmt durch die Einführung von Michel Grunewald und kritische Reflexionen Gilbert Merlios. Der erste Teil ist theoretisch und überblicksartig konzipiert. Gangolf Hübinger geht in seinen Betrachtungen auf die enge Verbindung zwischen Intellektuellen und Öffentlichkeit ein und legt dar, wie Zeitschriften als Hauptbühnen für den intellektuellen Auftritt dienten. Die Zeitspanne von 1880 bis 1910 sieht er als entscheidende Phase der Herausbildung einer neuen Kommunikationsgesellschaft an, die «dem Intellektuellen» ein markantes Profil verliehen hätte (32). Auf die Zeitschriften als «räsonierendes Zeitgespräch» geht Rüdiger vom Bruch ein. Er beschreibt ihren strukturellen Wandel seit dem späten 18. Jahrhundert und zeichnet die Wachstumsschübe dieses Mediums in Deutschland nach. Den Protestantismus vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik in seinen Grundströmungen analysiert Hartmut Ruddies und beschreibt unter anderem die Verbindung und Überlagerung theologischer und politischer Konfliktlinien. Den Abschluss dieses ersten Teils macht Frédéric Hartweg mit seiner Darstellung des Protestantismus und seiner Netzwerke in Elsass-Lothringen, in Reichsgebieten, in denen sich der Protestantismus in einer ausgeprägten Minderheitensituation befand. Die Behandlung Elsass-Lothringens in einem gesonderten Kapitel ist angesichts dessen wechselvoller Geschichte durchaus sinnig, war das Gebiet doch besonderen kultur- und kirchenpolitischen Einflüssen (Kulturkampf in Deutschland; Staat-Kirche-Trennungsgesetz in Frankreich) ausgesetzt.

Mit dem zweiten Teil, der sich zeitlich mit dem Deutschen Reich von 1871 bis 1918 auseinandersetzt, wendet sich das Buch den Fallstudien zu. Die Beiträge zeigen die grosse Diversität an Publikationsorganen und Netzwerken, die theologisch als auch politisch sehr unterschiedliche und oft gegensätzlich auf die Moderne reagierten. Der Reichsbote (Dagmar Bussiek), nicht zuletzt durch den Publizisten und Politiker Philipp von Nathusius-Ludom eng mit der Kreuzzeitung verbunden, war fest in das Netzwerk des rechten Flügels der preussischen Konservativen eingebunden. Wie die Autorin aufzeigt, bewegte sich der Reichsbote nicht erst seit dem Engagement für Adolf Stoeckers Anliegen in zutiefst antisemitischem Fahrwasser. Liberal-kulturprotestantisch geprägt war Julius Rodenbergs Kulturzeitschrift Deutsche Rundschau (Rebecca Schaarschmidt). Ihre Autorenschaft war gekennzeichnet durch religiöse Vielfalt. Protestantische, jüdische, frei- und areligiöse Intellektuelle propagierten gemeinsam die Idee einer deutschen Kulturnation. Alternative Positionen vertrat die Zeitschrift Die Hilfe (Michel Grunewald), die, für einen nationalen Sozialismus auf christlicher Grundlage plädierend, «praktisches Christentum» und «praktische Politik» als Leitmotive führte. Mit der Beschreibung des Volkserziehers wendet sich Christopher König der frühen völkischen Bewegung zu. Christliche Sprachmuster blieben in diesem Periodikum weiterhin präsent. Mehrere Beiträge ziehen den Ersten Weltkrieg mit in ihren zeitlichen Untersuchungshorizont ein. Philippe Alexandre stellt die Frage nach pazifistischen Exponenten im evangelischen Milieu in der Epoche Kaiser Wilhelms II. und zeigt auf, dass pazifistische Pfarrer und Theologen eine kleine Minderheit und meist Vertreter des Kulturprotestantismus waren. Weit weniger kriegskritisch gebärdeten sich die Wingolfsblätter (Michel Durand), die im Zuge des Ersten Weltkrieges eine Radikalisierung ihrer nationalen Gesinnung durchlebten und in einer eigentümlichen Mischung idealistischer, sozialdarwinistischer, nationalistischer, konservativer, imperialistischer und antikapitalistischer Argumentationsmuster den Krieg und seine Gräuel rechtfertigten. Einen Wandel hin zur Befürwortung einer Demokratisierung Deutschlands belegt Jens Flemming für den Fall der kulturprotestantisch geprägten Zeitschrift Evangelische Freiheit und deren Netzwerk um den Theologieprofessor Otto Baumgarten. Eine Darstellung über die Zeit des Krieges hinaus bietet der Beitrag von Christina Stange-Fayos über den «Deutschen Evangelischen Frauenbund», konservativer Exponent der deutschen Frauenbewegung, und dessen Publikationsorgan Evangelische Frauenzeitung. Einer Demokratisierung gegenüber war er, gesellschaftspolitisch nicht zuletzt von Adolf Stoecker beeinflusst, mit Ängsten behaftet. Gegen Ende des Krieges und dann in der Weimarer Republik kam es dennoch zum Eintritt rechter Frauen in die Parteipolitik, was am Beispiel der deutschnationalen Paula Müller skizziert wird. Eine longue-durée-Untersuchung liefert Hans-Christof Kraus zur evangelischen Zeitschrift Die Furche. Anhand einer Periodisierung in drei Phasen wird der Weg der neupietistisch geprägten studentischen Zeitung von der Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges über die erfolgreichen Jahre des Furche-Verlags in der Weimarer Republik und die prekäre Existenz während des Dritten Reiches sowie schliesslich über die grosse Bedeutung des Furche-Netzwerkes beim Neuaufbau der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland nachgezeichnet. Eine gewisse Sonderstellung unter den Beiträgen nimmt das Portrait über Erdmann Gottreich Christaller (Simone Orzechowski) und seinen satirischen Roman Prostitution des Geistes insofern ein, als es sich nicht um eine Analyse einer Zeitschrift und ihres Netzwerkes handelt. Christallers Kirchenkritik und ihre Rezeption stehen im Zentrum dieses Beitrages.

Die Zwischenkriegszeit setzt den zeitlichen Rahmen des dritten Teils des Sammelbandes. Die grossen Umwälzungen die Deutschland mit dem Ende des Ersten Weltkrieges erlebte, wirkten sich auch auf die Strukturen der Kirche und des Protestantismus aus. Im längsten Beitrag des Sammelbandes liefert Hans Manfred Bock eine eingehende Inhalts- und Netzwerkanalyse der traditionsreichen kulturprotestantischen Zeitschrift Christliche Welt von 1919 bis 1933. Dem im Band bislang noch nicht behandelten religiösen Sozialismus wendet sich Barbara Picht mit ihrer Analyse der beiden Zeitschriften Der Religiöse Sozialist und Blätter für religiösen Sozialismus sowie ihren Trägervereinen zu. Dem heterogenen Gebilde «Bekennende Kirche» nimmt sich Manfred Gailus an. Im Zentrum steht hierbei die Zeitschrift Junge Kirche, die dem Flügel der so genannten «intakten» Kirchen innerhalb der «Bekennenden Kirche» zuzurechnen war. Er kommt zum Schluss, dass die Zeitschrift eine auffallend national-völkische und somit in vielen Aspekten auch nationalsozialismuskonforme Grundprägung besass. Ein Fokus dieses Teils des Sammelbandes liegt auf völkisch geprägten Organisationen im deutschen Protestantismus. Als Exponenten eines bewusst völkischen Protestantismus werden die «Deutschkirche» und der «Bund für deutsche Kirche» thematisiert (Alexandra Gerstner, Gregor Hufenreuter, Uwe Puschner). In ihrer sehr informationsreichen Analyse zeigen die Autoren die personellen und institutionellen Vernetzungen zu weiteren völkischen Bewegungen auf. Die statistisch aufbereitete Sozialstruktur der Autorenschaft und Führungskreise der stark antisemitisch geprägten Vereinigungen verdeutlicht, dass Lehrer und Religionslehrer, die aufgrund ihrer Tätigkeit eine Multiplikatorfunktion besassen, einen beachtlichen Teil der Mitglieder stellten. Mit der organisatorisch eng mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus verbundenen und sich geistesgeschichtlich in völkischen Traditionslinien bewegenden «Deutschen Christen» befasst sich Rainer Hering. Diese umfassten eine Vielzahl an Gruppierungen. Am Beispiel Hamburg zeichnet Hering ein Sozialprofil der Mitglieder nach. Ein Grenzfall dessen, was einem kirchlich gebundenen protestantischen Intellektuellenmilieu zuzurechnen ist, stellt die Zeitschrift Deutscher Glaube (Clemens Vollnhals) dar. Sie ist der «Deutschen Glaubensbewegung» zuzurechnen und war im Gegensatz zum völkischen Christentum der «Deutschen Christen» stark neuheidnisch geprägt. Das protestantische Milieu fungierte jedoch als Herkunftsort der meisten Exponenten und war auch der Resonanzboden für die Bewegung.

Der fünfte und klar kürzeste Teil des Sammelbandes wendet sich der deutschen Nachkriegszeit zu. Die Teilung des Landes brachte für Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Bedingungen mit sich. Klaus Große Kracht wendet sich der Wochenzeitschrift Christ und Welt zu, die theologisch einen konservativ-lutherischen und politisch einen nationalkonservativen Standpunkt vertrat. Die Zeitschrift, in deren Umfeld sich verschiedene Persönlichkeiten mit NS-Vergangenheit bewegten, nahm Stellung zugunsten einer Amnestie für ehemaligen Nationalsozialisten und grenzte sich deutlich von einem Protestantismus der Prägung Martin Niemöllers ab. Längerfristig lenkte die Zeitschrift auf einen Mittekurs ein, zumal der Nationalprotestantismus in der BRD einer starken Milieuerosion ausgesetzt war. Der evangelisch-lutherischen Judenmission nach dem Zweiten Weltkrieg wendet sich Michael Schulz zu. Ihre Zeitschrift Friede über Israel wurde 1950 lanciert und konnte auf bestehende nationale und internationale judenmissionarische Netzwerke zurückgreifen. Die Idee der Judenmission stand nach dem Holocaust unter permanentem Rechtfertigungsdruck, zumal neben der fortdauernden Kritik von Seiten jüdischer Zeitschriften und Organisationen die Bewegung zunehmend auch von kirchenoffizieller Seite unter Druck geriet. Die sehr späte deutliche Distanzierung der evangelischen Landeskirchen von der Judenmission (1990er Jahre) widerspiegelt sich im langsamen Transformationsprozess der Zeitschrift und ihrer Trägerorganisation, was sich auf eigentümliche Weise im Nebeneinander vom Willen zur Mission von und zur Begegnung mit Juden manifestierte. Die Entwicklungen in der DDR beleuchtet der Artikel von Ellen Ueberschär zur Zeitschrift Zeichen der Zeit. Die Zeitschrift macht den Versuch deutlich, eine theologische und kirchenpolitische Position zu finden, die für die Situation im Realsozialismus angemessen war. Ueberschär fragt auch nach dem Vorhandensein eines protestantischen Milieus in der DDR.

In einem den Fallstudien nachgestellten kurzen Kapitel hält Gilbert Merlio eine kritische Rückschau auf das Gesamtresultat des Forschungs- und Publikationsprojekts. Da dieser Teil somit keine eigentliche Reflexion über den vorliegenden Band darstellt, fehlt es dieser so umfangreichen und informativen Publikation an einer Synthese. Kritisiert werden kann zudem, dass die Nachkriegszeit mit lediglich drei Beiträgen – nur einer davon zur DDR – in der Darstellung zu kurz gekommen ist. Merlio greift in seinen Reflexionen selbstkritisch auch Kritikpunkte auf, die schon in Rezensionen zu früheren Bänden aufgeworfen worden sind. So weist er darauf hin, dass ein starrer Milieubegriff sich als unmöglich erwiesen hat. Eine Fragmentierung sei nicht von der Hand zu weisen und es habe sich gezeigt, dass der Integrationskraft des Milieus kontinuierlich auch Differenzierungsphänomene entgegenliefen (588). Merlio hinterfragt zudem die Grundstruktur der Sammelbände, indem er auf die interessante Variante von Querschnitten in Ergänzung zu den vorgenommenen Längsschnitten verweist, was milieuübergreifende Vergleiche erleichtert hätte. In der Tat führt die gewählte Struktur der Sammelbände auch im vorliegen den Band zu Abgrenzungsproblemen. Gerade am Beispiel der völkisch geprägten Zeitschriften und Netzwerke zeigt sich, wie schwer solche milieuübergreifende ideologische Konzeptionen innerhalb einer streng milieuorientierten Struktur zu behandeln sind. Ebenso lassen sich in der gewählten Struktur zum Beispiel Überschneidungen zwischen protestantischem und konservativem Intellektuellenmilieu schwer aufzeigen.

Der Sammelband über das Evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland und seine Presse und Netzwerke ist wie die drei anderen Bände des Projektes für die Forschung sehr wertvoll, geben sie doch einen sehr breiten und repräsentativen Einblick in die verschiedenen sozialmoralischen Milieus nach Definition von Lepsius. Eine erschöpfende Darstellung der evangelischen Zeitschriftenlandschaft für den langen Untersuchungshorizont von 1871 bis 1963 konnte begreiflicherweise nicht das Ziel des vorliegenden Bandes sein. Er deckt mit seinen 19 Fallstudien jedoch ein breites Spektrum ab.

Zitierweise:
Thomas Metzger: Rezension zu: Michel Grunewald/Uwe Puschner in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock, Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963). Le milieu intellectuel protestant en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1871–1963) (=Convergences, Bd. 47), Bern et al., Peter Lang, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 344-347.